06.05.2011
Koalitionsvertrag steht und der Wechsel beginnt - Bericht von der gemeinsamen Mitgliederversammlung
Koalitionsvertrag steht und "der Wechsel beginnt"
"Der grün-rote Koalitionsvertrag ist als Leitlinie zu verstehen, nicht als Drehbuch", so die grüne Landtagsabgeordnete und designierte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer im großen Saal des Deutsch-Amerikanischen Instituts, der die Zahl der Interessierten an der gemeinsamen Mitgliederversammlung der Kreisverbände Heidelberg, Mannheim, Neckartal-Bergstraße und Hardt kaum fassen konnte. Nicht nur an den großen Andrang müssen sich die dort gewählten Abgeordneten Theresia Bauer, Wolfgang Raufelder, Uli Skerl und Manfred Kern erst gewöhnen, auch an die große Erwartungshaltung, die allenthalben im "Musterländle" herrscht.
Selbst Uli Sckerl, erfahrener Politkämpe auf allen Ebenen, juckt es manchmal noch in den Fingern, schnell eine beißende Anfrage zu formulieren, bevor er realisiert, dass es jetzt die Grünen mit der SPD sind, die an den Hebeln der Macht sitzen und die Verhältnisse wirklich verändern können. Dass mit dem Erfolgsdruck eine große Verantwortung einher geht, hat vor allem Theresia Bauer schon deutlich zu spüren bekommen. Das, darin ist sich das Polit-Quartett an diesem Abend einig, wird auch die grüne politische Kultur verändern. Mehr Bürgerbeteiligung und eine Politik des Gehörtwerdens setzt auf allen Ebenen offene Ohren und Bereitschaft zur Partizipation voraus. Bequem wird das nicht immer, das wissen die Bauer und Sckerl, die schon länger im Landtag dabei sind. Raufelder und Kern haben als Frischlinge in der Fraktion erlebt, dass selbst sie sich die Mitwirkung in den letzten Wochen regelrecht erkämpfen mussten. "Da müssen wir alle noch lernen", so die Erkenntnis daraus.
An einem Projekt mit historischem Charakter teilzunehmen, das Gefühl haben nicht nur die Abgeordneten, sondern das ganze Umfeld, inklusive der Medien. Überraschend dabei, so berichtete Theresia Bauer, "die Atmosphäre des Getragenseins" von einer sehr breiten Basis der Bürgerinnen und Bürger. Am Montag soll nun nach dem Wochenende, das bei den Koalitionspartnern der Diskussion mit der Basis gehört, der 85 Seiten starke Koalitionsvertrag unterzeichnet, und dann Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten gekürt und am Nachmittag die Ministerinnen und Minister bestellt werden.
Die Ängste der Menschen vor radikalen Veränderungen, so wundern sich die vier Grünen fast ein wenig, seien relativ gering, eher herrsche Aufbruchstimmung nach 58 Jahren konservativer Regierungen, bis hinein in die Beamtenapparate, die Ministerien und die Polizei. Der neuen Koalition werde abgenommen, dass sie sorgsam mit dem umgehen, was Baden-Württemberg besonders macht. "Aber nur, wer verändert, kann bewahren, was ist", gibt Bauer die Parole aus.
Neben Stuttgart 21 in der Koalition ist für sie der große Knackpunkt die Finanzlage. "Die ist wirklich dramatisch", beschönigt die direkt gewählte Parlamentarierin aus Heidelberg nichts. Zwar stehe der ganz konkrete Kassensturz noch aus, aber schon jetzt täten sich Löcher über Löcher auf. Allerdings ist sie davon überzeugt, dass die Bevölkerung, wenn sie spürt, dass die Karten offen auf den Tisch gelegt werden, einen Konsolidierungskurs mittragen wird. An einigen, wenigen Stellen ist der Rotstift Tabu. Hauptpunkt ist dabei Bildung: Der Erfolg in diesem Bereich muss von der sozialen Herkunft entkoppelt werden, so lautet das Hauptziel. Deshalb wird die Erhöhung der Grunderwerbsteuer um 1,5 Prozentpunkte, was 300 Millionen Euro bringt, auch direkt bei den Kommunen ankommen und dort in die frühkindliche Betreuung und in die Schulsozialarbeit gesteckt. Die Einführung der flächendeckenden Ganztagsschule, neuer Schulmodelle und die Abschaffung der Studiengebühren (130 Millionen Euro) gehören ebenfalls dazu. "Das Kapital unseres Landes sind kluge Köpfe", weiß niemand besser als die künftige Forschungsministerin und das soll so bleiben.
Uli Sckerl, der sich in der letzten Legislaturperiode vor allem einen Namen als Experte für Innenpolitik gemacht hat, verspricht, dass die Bürgergesellschaft kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern Realität werden wird. "So umfassend, wie das noch keine Landesregierung bislang getan hat". Um in Sachen Volksentscheidung und vor allem das bislang nötige Quorum dafür weiter zu kommen, sei gleichwohl eine Verfassungsänderung notwendig. Der Weinheimer weiß wohl, dass das ohne die CDU nicht machbar sein wird, denkt aber auch, dass sich die Konservativen "auf mittlere Sciht hier keine Blockade erlauben können". Schweizer Verhältnisse werde es dennoch nicht geben. Allerdings werden die Menschen im Ländle in Zukunft bei allen bedeutsamen Planungsvorhaben mitreden und zwar von Anfang an. "Nicht wie bisher", so Sckerl, "wenn die Würfel schon gefallen sind". Dass dafür auch die richtige Form, ob Anhörung, Verhandlung, Mediation oder ähnliches gefunden wird, soll die Stelle einer Staaträtin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung sicherstellen und zwar in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Bürgernäher wird auch die Polizei. "Da ist nach dem Schwarzen Donnerstag von Stuttgart ein riesiges Bedürfnis entstanden", beschreibt der Abgeordnete von der Bergstraße. Er und Bauer, die beide stark in die Koalitionsverhandlungen eingebunden waren, geben sich keiner Illusion hin, dass Stutgart 21 der schwierigste Punkt im grün-roten Verhältnis bleiben wird. Es ist nach Ansicht der beiden ein "schmaler Grat, den man sich entschlossen hat, miteinander zu gehen", ohne sich in der Sache wirklich geeinigt zu haben. Als Kompromiss wurde erreicht, dass die Grünen den Bau der Strecke Wendlingen-Ulm akzeptieren und die Sozialdemokraten, dass, wenn die Kosten 4,5 Milliarden Euro übersteigen sollten, es keine zusätzlichen Landesmittel gibt. Jetzt warten aber alle erst einmal auf das Ergebnis des Stresstests. Noch schwerer habe man sich auf grüner Seite zur Volksabstimmung durchgerungen, weil dort zwar die einfache Mehrheit entscheidet, das Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten aber extrem schwer zu erreichen ist.
Gute Impulse für die Metropolregion Rhein-Neckar haben Wolfgang Raufelder und Manfred Kern ausgemacht. Vieles, was im Länderübergreifenden, metrogrünen Wahlprogramm aufgeschrieben wurde, werde jetzt Realität. Das fängt bei der Direktwahl der Regionalversammlung und der Landräte an und hört bei der Ablehnung von Flugplätzen und Atomkraft sowie der Förderung erneuerbarer Energie noch lange nicht auf (der bereits existierende Windatlas soll wesentlich stärker berücksichtigt werden). Wichtiger Punkt auch hier die Bildung und Kinderbetreuung.
In der von Gerhard Pitz moderierten, lebhaften Diskussion spürbar war zum einen, wie intensiv und detailliert sich viele Menschen bereits mit den Leitlinien des künftigen Regierungshandelns in Baden-Württemberg vertraut gemacht haben, wie achtsam die Umsetzung begleitet werden wird und wie groß die Bereitschaft ist, sich selbst mit einzubringen.
von Kirsten Baumbusch