31.03.2006
Interview mit Fritz Kuhn & der Zeitschrift "Wirtschaft und Markt": »Es laufen zu viele Miesmacher herum...«
W&M: Herr Kuhn, in Sachsen-Anhalt wird Ende März gewählt. Wenn dieses Gespräch erscheint, ist die Sache gelaufen. Trotzdem die Frage, kommen die Grünen wieder in den Landtag?
Fritz Kuhn: Kurz vor der Wahl waren wir in Sachsen-Anhalt bei vier Prozent, ich hoffe, wir sind jetzt drin und haben damit einen Trend bestätigt, der für den ganzen Osten gilt und unabhängig vom Ergebnis in Sachsen-Anhalt weiter gehen wird.
W&M: Welchen Trend haben Sie ausgemacht?
Fritz Kuhn: Die Grünen werden Schritt für Schritt stärker im Osten. Bei den letzten Bundestagswahlen haben wir über fünf Prozent in den neuen Ländern bekommen. In Sachsen sitzen wir wieder im Landtag. In Berlin liegen die Grünen derzeit bei 19 Prozent, auch dort wird im Herbst gewählt.
W&M: Was sind die neuen Wachstumstreiber für die Grünen im Osten?
Fritz Kuhn: Wir befassen uns jetzt systematischer mit den Problemen der neuen Bundesländer. Und das nicht nur im gesellschaftspolitischen oder kulturellen Bereich, wir suchen auch nach Antworten auf die drängenden wirtschaftspolitischen Fragen des Ostens. Das wird zunehmend erkannt und auch honoriert.
W&M: Ihre Partei hat gerade das Konzept grüne Marktwirtschaft vorgestellt. Darin befindet sich das Kapitel Neustart im Osten. Auf welchen Gebieten muss Ostdeutschland neu starten?
Fritz Kuhn: Vielleicht ist der Begriff Neustart eine gewisse Zuspitzung, doch es geht uns schon um neue Weichenstellungen – etwa bei der Investitionszulage.
W&M: Sie selbst sind ein ausgewiesener Gegner dieses Förderinstruments für die ostdeutsche Industrie. Was stört Sie an der Investitionszulage?
Fritz Kuhn: Sie führt zu einer Förderung mit der Gießkanne und zu ungerechtfertigten Mitnahmeeffekten. Auf der einen Seite landet das Geld vornehmlich als Zubrot bei Firmen, die sowieso Investitionsentscheidungen für sich getroffen haben. Auf der anderen Seite wird mit der Investitionszulage versucht, Unternehmen auf halbleere Gewerbegebiete zu locken. Das hat mit Profilierung von Regionen, Clusterbildung oder Kernkompetenzförderung nicht viel zu tun.
W&M: Trotzdem beharrt der Osten auf der Investitionszulage und feuert den Streit um diese Gelder immer neu an. Wo liegt aus Ihrer Sicht die Lösung?
Fritz Kuhn: Ein Problem ist der Investitionsbegriff, der den Verwendungen zugrunde liegt, er ist klassisch alt, aber untauglich. Das führt dazu, dass man in Beton investieren darf, aber nicht in Köpfe, weil Köpfe haushaltsrechtlich als konsumtive Ausgaben gelten.
W&M: Das heißt?
Fritz Kuhn: Dass man den Investitionsbegriff neu definieren muss. Nicht dahin, dass man reguläre Haushaltsaufgaben fortan mit diesen Fördermitteln bestreiten darf. Aber es muss möglich sein, das Geld für Investitionen in Bildung einzusetzen.
W&M: Ostdeutsche Länderchefs wie der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU), begreifen die Investitionszulage als probates Mittel für den Ausgleich teilungsbedingter Nachteile im Osten. Ist das nicht der Freifahrtsschein zum Stopfen von Haushaltslöchern mit Hilfe von Fördergeldern?
Fritz Kuhn: Ich finde, wir sollten da ehrlich miteinander umgehen. Wenn der Staat für den Zweck definierte Mittel einfach freigibt und den Empfängern überlässt, was sie damit machen, ruiniert er Stück für Stück staatliche Förderung.
W&M: Kontrolle muss sein?
Fritz Kuhn: Selbstverständlich muss Konrolle sein. Aber das reicht nicht, wenn der Investitionsbegriff völlig an den Realitäten vorbeigeht und zu Verwerfungen führt. Der Osten krankt nun mal nicht mehr an einer zu großen Infrastrukturlücke.
W&M: Sondern?
Fritz Kuhn: Er hat zu wenige innovative Cluster, technologische Zentren, in denen sich Hochschulen und Universitäten mit der Industrie verbünden. Und es fehlen Regionen, die für industrielle Traditionen stehen oder neue aufleben lassen. Nur kann das die Investitionszulage nicht leisten.
W&M: Wofür plädieren Sie?
Fritz Kuhn: Die Investitionszulage muss aus meiner Sicht in einer reformierten Gemeinschaftsaufgabe aufgehen. Die GA ist der bessere Weg, zielgenauer und nachhaltiger zu fördern, das haben Wettbewerbe wie der Innoregio gezeigt. Im Zuge dieses Wettbewerbs haben sich Forschungseinrichtungen, Hochschulen mit der Industrie und den Kommunen verbunden und in den Regionen Ansätze für Cluster geschaffen, die auf vorhandene Stärken aufbauen – siehe den Musikinstrumentenbau im Vogtland, um mal ein »exotisches Beispiel« dafür zu nennen.
W&M: Hinter dem Streit um die Investitionszulage und die Neujustierung der Ost-Förderung steckt der schnöde Kampf ums Geld. Müssen die Transferleistungen im Sinne der zahlenden Alt-Bundesländer schneller als geplant zurückgefahren werden?
Fritz Kuhn: Nein, die Solidarpaktmittel, die für Ostdeutschland bis 2019 vorgesehen sind, müssen in diesem Zeitraum auch in voller Höhe kommen. Dennoch brauchen wir ziemlich bald ein Instrumentarium, das die künstliche Grenze zwischen Ost und West aufhebt und der Förderung strukturschwacher Gebiete in Deutschland insgesamt dient.
W&M: Warum ist das so wichtig?
Fritz Kuhn: Die Verlässlichkeit des Solidarpaktes ist für viele Menschen im Osten ein Indikator, ob man es mit ihren Problemen ernst meint. Dass man aber auch solche Hilfen für strukturschwache Regionen im Westen organisieren muss, ist für mich nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine Frage der gesamtdeutschen Akzeptanz für den Ost-West-Transfer.
W&M: Diese Akzeptanz, so erscheint uns, bröckelt seit langem. Wird der Solidarpakt wirklich halten?
Fritz Kuhn: Ich gebe Ihnen da Recht, die Akzeptanz nimmt mit jeder neuen Fußgängerzone in ostdeutschen Städten weiter ab. Die Besucher aus dem Westen vergleichen, und nicht jeder hat beim Betrachten der neuen Fassaden die eigentlichen wirtschaftlichen und demographischen Daten des Ostens im Kopf.
W&M: Man darf die Macht der Bilder nicht unterschätzen?
Fritz Kuhn: Wir müssen mit dem Thema sensibel umgehen. Dazu gehört, die Probleme der Westdeutschen anzuerkennen. Ich rate das auch allen ostdeutschen Ministerpräsidenten. Die Akzeptanz für den Solidarpakt und seiner finanziellen Ausstattung kann nicht über Jahre gehalten werden, wenn man sich der Frage nach einem gesamtdeutschen Strukturhilfeprogramm nicht öffnet.
W&M: Bei allem Bemühen um gegenseitiges Verständnis – beim Geld hört zumeist die Freundschaft irgendwann auf. Braucht es da nicht eine Verankerung des Solidarpaktes im Grundgesetz, wie das Ost-Politiker immer wieder mal fordern?
Fritz Kuhn: Ich halte nichts davon, dass wir jede Frage, die von Bedeutung ist und Verlässlichkeit erfordert, ins Grundgesetz reinschreiben. Das wäre eine Art von Selbstmisstrauen, die uns kein Stück weiterbringt. In unserem Lande laufen schon genug politische Miesmacher herum.
W&M: Wie geht man gegen die Nörgler an dem schwierigen Ost-West-Geschehen an?
Fritz Kuhn: Mit Verlässlichkeit und einem ehrlichen politischen Engagement, diesen Generationenvertrag zu erfüllen.
W&M: Gehört zu dieser Verlässlichkeit auch, an dem Versprechen festzuhalten, in Ostdeutschland gleiche Lebensverhältnisse wie im Westen herstellen zu wollen?
Fritz Kuhn: Wir sollten dieses Ziel nicht aufgeben, aber die Vision von den schnell blühenden Landschaften, die die meisten Menschen aus dem Osten eh schon abgeschrieben haben, endgültig aus unserem politischen Vokabular streichen. Die ostdeutschen Strukturprobleme zu lösen, wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber wir brauchen die Hoffnung darauf, dass wir das schaffen werden.
W&M: Ist die ungenügende Zielgenauigkeit der Transferleistungen der eigentliche Grund für die enttäuschende wirtschaftliche Entwicklung im Osten?
Fritz Kuhn: Wir haben zwei Probleme, die auch die große Koalition nicht richtig ins Auge fasst. Zum einen werden ab 2008 die Solidarpaktmittel aufgrund der Degression deutlich zurückgehen. Und ich sehe noch nicht, wie die Länder- und Kommunalhaushalte das stemmen können. Man kann es mit Kaputtsparen immer lösen, aber davon hat man langfristig nichts. Das ist der eine Punkt...
W&M: ...und der andere?
Fritz Kuhn: Dem Osten fehlen trotz einiger guter Entwicklungen im verarbeitenden Gewerbe tatsächlich immer noch 100.000 Betriebe im klein- und mittelständischen Bereich, die ja die globalisierungsfestesten Arbeitsplätze schaffen. Diese Firmen können nicht allein im Dienstleistungssektor gegründet werden, da muss auch im produzierenden Bereich etwas geschehen.
W&M: Die große Koalition bietet bislang wenig in Sachen Ost, haben die Grünen ein Rezept für den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern?
Fritz Kuhn: Wir brauchen eine neue industriepolitische Strategie für den Osten. Bislang haben die Ministerpräsidenten rein taktisch immer nur das verteidigt, was ihre Länder schon hatten und sich gesagt, wir nehmen alles, was wir bekommen können. Gerade das mache ich den ostdeutschen Ministerpräsidenten zum Vorwurf, man erkennt nicht wirklich, wofür sie stehen?
W&M: Bleibt die Frage, wofür stehen die Grünen im Osten?
Fritz Kuhn: Wir arbeiten, nicht nur für den Osten, an gesellschaftspolitischen Leitvisionen und davon abgeleitet auch an industriepolitischen Zielstellungen. Unser großes grünes Projekt weg vom Öl ist das beste Beispiel dafür. Gerade für den Osten bieten sich bei diesem Thema viele Chancen.
W&M: Inwiefern ist das Thema ökologische Modernisierung der Energiewirtschaft für den Osten relevant?
Fritz Kuhn: Der Osten hat große landwirtschaftliche Betriebe und ausreichend Flächen, um Rohstoffe für Biosprit anzubauen. Im Osten sitzen zudem viele Solartechnikfirmen, die schon mehrere Tausend Arbeitsplätze geschaffen haben und meinen alten Spruch, dass man mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben kann, neuen Nachdruck verleihen. Solche Entwicklungen stimmen mich zuversichtlich, dass wir künftig mehr Wertschöpfung in den Osten bringen können.
W&M: Uns nicht, gerade hat das Kabinett aus fiskalischen Gründen die Steuerfreiheit für Biodiesel aufgehoben. Macht nicht der Finanzminister mit seinem Zwang zur Haushaltssanierung solche Hoffnungspflanzen für den Osten wieder zunichte?
Fritz Kuhn: Keine Frage, er gefährdet sie damit. Daran kann man erkennen, dass die große Koalition über der Bewältigung aktueller Probleme grundsätzliche Entwicklungsfragen, gerade auch für den Osten, aus dem Auge verliert. Ich glaube nicht, dass der Finanzminister spezifische Ostfragestellungen berücksichtigt, wenn es um die sicherlich dringende Hauhaltssanierung geht.
W&M: Hat die gewiss sehr heterogene Opposition überhaupt eine Chance, mit solchen Fragestellungen im Parlament durchzudringen?
Fritz Kuhn: Wenn man es klug macht, immer. Ich halte nichts von der defätistischen Aussage, dass man in der Opposition hilflos ist.
W&M: Da spricht der Fraktionsführer ...
Fritz Kuhn: ... nein, der Parlamentarier der zwölf Jahre in Baden-Württemberg in der Opposition gesessen hat. Eine gute Opposition regiert ein stückweit mit. In diesem Falle haben wir sogar mit dem Verband der Autoindustrie und dem Bauernverband starke Verbündete. Diese Trias aus Ökologen, Autoleuten und Bauernlobby gibt es hierzulande auch nicht so oft.
W&M: Auf welchen Gebieten muss man die neue Bundesregierung im Sinne des Ostens noch zum Jagen tragen?
Fritz Kuhn: Vor allem hinsichtlich seiner Chancen, die sich aus der Osterweiterung der Europäischen Union ergeben. Anstatt ständig über Abwehrmaßnahmen gegen die ungeliebte Konkurrenz aus Osteuropa nachzudenken, muss sich die Politik den eigentlichen Fragen der Erweiterung stellen.
W&M: Zum Beispiel?
Fritz Kuhn: Zum Beispiel, welche Chancen uns die neuen Märkte bieten? Was wir dorthin liefern können? Welche Möglichkeiten der Kooperation es dort gibt? Wir sind ein Industrieland, das exportieren will und muss. Wenn ich also diese gigantische Nummer Osterweiterung, die ja noch längst nicht abgeschlossen ist, für mich nutzen will, muss ich endlich damit anfangen, solche Fragen zu beantworten.
W&M: Hat die von Wahl zu Wahl hechelnde Politik überhaupt noch Kraft und Willen genug, sich den grundsätzlichen Problemen unserer Entwicklung zu stellen?
Fritz Kuhn: Die Grünen haben das. Der Satz, das werden wir nie schaffen, gehört nicht zu unserem Vokabular, denn der macht die Politik kaputt.
W&M: Herr Kuhn, wir danken für das Gespräch.