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29.03.2006

Bundestagsrede von Fritz Kuhn (MdB) in der Generaldebatte zum Bundeshaushalt 2006

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin!

 

Ich finde, wir müssen uns etwas stärker den Problemen, die vor uns liegen, zuwenden, als es in den bisherigen Beiträgen von FDP und PDS/WASG getan wurde. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung klar gemacht, dass Sie eine „Koalition der Möglichkeiten“ sein wollen, die den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land systematisch neue Möglichkeiten eröffnet. Sie wollen die Freiheitsspielräume für alle Menschen in Deutschland unter der Parole „Mehr Freiheit wagen!“ vergrößern. Diese beiden Sätze sind die Prüfsteine für die Reformen, die jetzt vor uns liegen. Daran will ich mich bei dem, was ich für das Bündnis 90/Die Grünen sagen werde, orientieren. Ich möchte mit der Außenpolitik beginnen. In der Außenpolitik haben Sie einen viel gelobten Start hingelegt; er sei Ihnen gegönnt. Aber klar ist: Jetzt liegen eine ganze Reihe von großen Problemen vor uns. Eines von ihnen will ich ansprechen: Der Iran strebt nach dem Besitz von Atomwaffen und ist nicht mehr sehr weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Wir alle machen uns zu Recht Sorgen aufgrund der Bedrohungen, die dies für Europa und insbesondere für Israel bedeuten würde. In diesem Umfeld fand der Besuch Bushs, des Präsidenten der Vereinigten Staaten, in Indien statt. Das Atomwaffenabkommen, über das dort verhandelt wurde, ist ein Abkommen zwischen Amerika und Indien. Indien hat den Nichtverbreitungsvertrag jahrzehntelang nicht unterzeichnet. Im Zusammenhang mit der internationalen Diskussion über atomare Abrüstung bedeutet dies nichts anderes, als dass Indien, ein Land, das sich bewusst nicht an die atomare Abrüstungspolitik der letzten zehn Jahre gehalten hat, nun belohnt und offiziell in den Status einer Atommacht gehoben wird, positiv sanktioniert durch die Vereinigten Staaten. An dieser Stelle muss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie sich dazu bekennt, dass Deutschland zur weltweiten atomaren Abrüstung steht, öffentlich deutlich machen, dass sie dies für falsch hält.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Außenminister Steinmeier gesagt hat, er hätte sich einen besseren Zeitpunkt für dieses Geschäft vorstellen können. Vielleicht ist das eine Form diplomatischer Kritik. Ich habe gelesen, dass Sie, Frau Merkel, mit Präsident Bush telefoniert haben. So einfach funktioniert das aber nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Wir von den Grünen und viele in diesem Parlament erwarten, dass Sie die internationale Politik der atomaren Abrüstung fortsetzen. Wenn diese durch eine strategische Fehlentscheidung wie die der Amerikaner bezüglich Indiens gefährdet wird, erwarten wir, dass Sie das klar und deutlich sagen. Wie wollen wir denn sonst dem Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien oder anderen Ländern – darüber wird wenig diskutiert – klar machen, dass sie keine Atomwaffen haben dürfen, wenn wir nicht deutlich sagen, dass das internationale Regime der atomaren Abrüstung gilt? Ich finde, dass Sie dazu ein klares Wort sagen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das hätte Fischer alles gemacht?)

Ich komme nun zum Bereich Innenpolitik und möchte hier mit dem Thema Arbeitsmarktpolitik beginnen. Die Maßnahmen, die Sie bisher ergriffen haben, nämlich den Rentenzuschuss beim Arbeitslosengeld II zu kürzen und die Pauschalen bei den Minijobs anzuheben, sind rein fiskalischer Art. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik, die hilft, die Menschen aus der Dauerarbeitslosigkeit herauszuholen. Es wird nur eine Diskussion um Mindestlöhne und Kombilöhne geführt. Wie wollen Sie den Menschen, die lange arbeitslos sind, oder den älteren Arbeitslosen, die eigentlich keine Chance mehr auf einen Arbeitsplatz haben, helfen, wieder in Arbeit zu kommen? Ich finde, bisher liegt von Ihrer Regierung hierzu nichts vor. Auch in den einzelnen Etats des Bundeshaushalts sind keine entsprechenden Zahlen zu finden. Es liegt kein klares Konzept vor.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Ihre Antwort ist: Sie wollen die Lohnnebenkosten senken. Sie tun dies aber nicht signifikant. Ich kann Ihnen nicht ersparen, das so deutlich zu sagen. Sie wollen, wenn alles gut geht, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Den Beitrag zur Rentenversicherung wollen Sie um 0,4 Prozentpunkte erhöhen. Sie werden, so wie die Dinge im Gesundheitsbereich aussehen, die Sozialversicherungsbeiträge um fast 1 Prozentpunkt anheben müssen. Sie gehen hier ein bisschen runter, dort ein bisschen rauf. Das ist kein Konzept für eine signifikante Senkung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, ich möchte von Ihnen hierzu eine klare Antwort. Sie können nicht so tun, als würde die Mehrwertsteuererhöhung die Kosten für Gesundheit nicht erhöhen. Sie wissen auch, dass die Verlagerung von Steuermitteln auf die Beiträge Auswirkungen haben wird und die Krankenversicherungsbeiträge steigen werden. Die Politik, die Sie betreiben, ist nicht konsistent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Ich habe die Sorge, dass sich der Anspruch, die große Koalition stemme große Strukturprobleme, bei Ihnen nicht in die Wirklichkeit umsetzen lässt. So wie bisher die Diskussion über Mindest- und Kombilöhne geführt wurde, spricht alles dafür, dass auch das schief gehen wird. Die einen sind für Mindestlöhne. Ich will für meine Fraktion sagen: Wenn man das gut macht, also regional und branchenspezifisch differenziert vorgeht und entsprechende Übergangsregelungen vorsieht, dann ist das Konzept der Mindestlöhne richtig. Vor allem wenn man einen internationalen Vergleich vornimmt, lassen sich viele Argumente dafür finden. Aber die Kombination von flächendeckendem Kombilohn mit Mindestlöhnen ist ökonomisch der größte Unsinn, den Sie überhaupt anrichten können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Vorstellung ist doch: Es wird ein Mindestlohn vorgegeben. Wenn die real existierenden Löhne unterhalb des Mindestlohns liegen, gleicht der Staat die Differenz aus. Wenn Sie das ernsthaft vorhaben – das war in der Diskussion –, dann sage ich: Das wird keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Das ist eine flächendeckende Milliardensubvention des Arbeitsmarkts, wodurch Dauerarbeitslose aber keine bessere Perspektive bekommen. Das wird dazu führen, dass die Wirtschaft, zum Teil mit Augenzwinkern gegenüber den Gewerkschaften, in diesem Bereich Arbeitsplätze schafft nach dem Motto: Wenn der Staat draufzahlt, kann es nicht verkehrt sein. So ein Konzept brauchen Sie uns in den nächsten Monaten nicht als Reformkonzept für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland auf den Tisch zu legen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Frau Merkel, man muss feststellen, dass Sie für die Lösung der Probleme in diesem Land bislang keine konsistente Antwort haben. Die beiden vordringlichen Probleme sind, wie wir erstens neue Jobs im Niedriglohnbereich schaffen können, sodass Arbeit auf dem Erwerbsarbeitssektor endlich möglich ist, und wie wir zweitens die Schwarzarbeit effektiv bekämpfen können. Rechnerisch entspricht das Schwarzarbeitsvolumen 5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätzen. Dazu habe ich bisher nichts von Ihnen gehört.
Wir Grünen haben ein Konzept. Da wir festgestellt haben, dass die Schwarzarbeit deswegen so hoch ist, weil das Entstehen von Jobs auf dem Arbeitsmarkt gerade im unteren Lohnbereich durch die Lohnzusatzkosten faktisch unmöglich gemacht wird, wollen wir das Ganze verändern: Die Lohnzusatzkosten, die das größte Problem sind, müssen wir im unteren Lohnbereich niedriger ansetzen, nämlich nicht gleich mit 42 Prozent, wie es heute der Fall ist. Ab dem ersten Euro muss ein geringerer Beitrag für die Sozialversicherungssysteme erhoben werden. Erst bei circa 1 800 bis 2 000 Euro wollen wir beim vollen Satz sein. Das ist ein grünes Progressionsmodell für die Sozialversicherungsbeiträge.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, der springende Punkt ist, dass Sie bei diesem Konzept mit einer bestimmten Summe Geld – sagen wir, mit 15 Milliarden Euro – wesentlich mehr Arbeitsplatzeffekte erreichen können, als wenn Sie dies bezogen auf die ganze Breite der Lohn- und Einkommensskala tun würden. Das IAB schätzt, dass Sie mit 15 Milliarden Euro bei Umsetzung unserer Vorschläge 500 000 Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich schaffen könnten, während Sie ansonsten nur 200 000 Arbeitsplätze schaffen könnten. Wir haben in Deutschland das Problem, dass die Dauerarbeitslosen keine Chance mehr haben. Deshalb müssen Sie Ihre Politik auf diesen Bereich konzentrieren und nicht die gesamte Skala der Löhne und der Beschäftigung heranziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Ich möchte nun zur Gesundheitspolitik kommen. Soweit wir das verfolgen können, sehen wir, dass sich in den Diskussionen hier einiges Wildes abspielt. Heute Nachmittag gibt es ja wieder ein entsprechendes Treffen.
Ich will es einmal ganz einfach sagen. Wir haben folgende Situation: Wir haben ein sehr teures Gesundheitssystem und wir belasten die Löhne falsch, weil wir zu viel über den Lohn finanzieren. Übrigens, Herr Lafontaine, in Ihrer simplen Ökonomieanalyse kommen Sie immer mit der Steuer- und Abgabenquote; Sie stellen aber nicht die Frage, wie hoch die Lohngesamtkosten im internationalen Vergleich sind. Gestern wurde die Zahl deutlich genannt: Im internationalen Vergleich haben wir die zweithöchsten Lohngesamtkosten nach Dänemark, und zwar deswegen, weil wir mit den Lohnnebenkosten an der falschen Stelle ansetzen. Sie halten das für eine neoliberale Diskussion. Mit Ihrem ökonomischen Dogmatismus, der etwas Eitles hat und aus der Vergangenheit stammt – ich will mich nicht näher damit beschäftigen –, verabschieden Sie sich aus jeder ökonomischen Klarheit bezüglich der Investitionen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frau Merkel, ich will hier ein klares Konzept sehen. Irgendein Mischmaschkonzept werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Aus dem Konzept muss erstens klar werden, wie wir in Deutschland zu mehr Prävention kommen. Das beste Gesundheitssystem ist nämlich eines, das die Kosten vermeidbarer Krankheiten reduziert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Im Jahre 2005 haben Sie ein Präventionsgesetz – der Umfang der Zahlungen sollte immerhin 250 Millionen Euro betragen – im Bundesrat scheitern lassen. Bislang ist an dieser Stelle nichts von Ihnen gefolgt. Wir könnten also einsparen, indem die Leute weniger krank werden und wir hier in Deutschland eine vernünftige Prävention durchführen. Hier sind wir im internationalen Vergleich schwächer als andere vergleichbare Länder. Das muss sich ändern. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss, in dem zur Prävention nichts essentiell Neues formuliert ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss, der nur auf der Einnahmenseite greift. Ich sage Ihnen: Wenn Sie neues Geld für das Gesundheitssystem herschaffen, den Verteilmechanismus zwischen der Ärzteschaft und den Kassen, zwischen denen, die heute von dem Ganzen profitieren, aber nicht substanziell verändern, dann wird das neue Geld so schnell weg sein, so schnell können Sie gar nicht schauen, wodurch Sie nichts zur Reform des Gesundheitssystems in Deutschland beigetragen haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Deswegen sind die Frage nach mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem, die Frage nach Transparenz für die Patientinnen und Patienten und die Frage nach Prävention essenziell. Wir müssen nämlich auch die Ausgabenseite des Gesundheitssystems – und nicht nur die Einnahmenseite – bearbeiten.
Sie wissen, dass wir bei der Strukturreform für eine Bürgerversicherung sind, durch die die Finanzierung des Gesundheitssystems auf eine breitere und solidarischere Grundlage gestellt wird. Ich habe die Sorge, dass Sie aufgrund der Aufstellung, die Sie nun einmal haben – die Kopfpauschale auf der einen Seite und die Bürgerversicherung auf der anderen Seite –, zu einem richtig miesen, faulen Kompromiss kommen werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Diskussion sind die lohnbezogenen Arbeitgeberbeiträge – gedeckelt oder nicht gedeckelt –, die Arbeitnehmerbeiträge auf der breiteren Grundlage aller Einkunftsarten, ein kleines Kopfgeld bzw. eine kleine Kopfprämie und schließlich ein Gesundheitssoli. Ich sage Ihnen klipp und klar voraus: Dieses Gemisch, das Sie hier vorhaben, wird schlechtere Ergebnisse zur Folge haben als jedes der einzelnen Modell allein, die vorher in der Diskussion waren. Darauf können Sie Gift nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Deswegen müssen Sie, Frau Merkel, wenn Sie den Anspruch haben, mit der großen Koalition die großen Strukturprobleme in unserem Land zu lösen, schon mehr Mut beweisen als mit dieser Kompromissmischtechnik, die Sie in anderen Bereichen, so wie es im Koalitionsvertrag steht, angewendet haben.
Wenn Sie die Frage zum Verhältnis zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der PKV nicht aufgreifen und Sie keinen Risikostrukturausgleich zwischen diesen beiden Versicherungssystemen schaffen, dann können Sie alles, was Sie hier machen wollen, einpacken. Was soll das für ein System sein, wenn nur die Kapital- oder Mieteinkünfte der Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen werden, aber nicht die der Mitglieder in der PKV?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das heißt, dass Sie an das Vermögen der kleinen Leute, falls diese Mieteinnahmen zur Alterssicherung haben, herangehen, dass aber die Gutverdienenden in der PKV außen vor bleiben. Das ist keine Verbreiterung; das, was Sie offensichtlich anstreben, ist vielmehr ein richtig mieser Kompromiss. Wir werden die Diskussion begleiten. Aber wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie um des Koalitionsfriedens willen – ich sage noch einmal: Der Honeymoon, also die Phase des netten Lächelns, ist vorbei – einen Kompromiss schließen, der keine tatsächlichen Strukturreformen im Gesundheitssystem bedeutet. Ich möchte etwas zum Thema Wirtschaft und Innovationen sagen. Auf diesem Gebiet sind Sie richtig schwach. Sie stellen für vier Jahre 6 Milliarden Euro für die Forschung zur Verfügung. Eine kleine Bemerkung am Rande: In Deutschland geben wir jedes Jahr 6 Milliarden Euro für Agrarsubventionen aus. – Aber ansonsten beschließen Sie in diesem Bereich Kürzungen. Der EU-Finanzkompromiss im Dezember bedeutet nichts anderes als eine Kürzung der Mittel für Forschung und Wissenschaft auf europäischer Ebene. Sie, liebe Frau Merkel, haben dem zugestimmt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

 

Alle Welt weiß, dass die Zukunft der Arbeitsplätze in der Wissensgesellschaft liegt. Die einzige Chance für Deutschland besteht darin, eine Spitzenstellung in der Wissensgesellschaft mit Innovationen, also mit neuen Produkten und Dienstleistungen, zu erreichen, die andere, egal mit welchen Lohnkosten, noch nicht bereitstellen können. Was machen Sie? Sie flüchten sich unter dem Namen „Mutter aller Reformen“ der Föderalismusreform in die Kleinstaaterei und geben als Bundesregierung auf einem Gebiet, wo es gilt, die Wissensgesellschaft zu gestalten, den Anspruch auf, an dieser Stelle ein Wort mitzureden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Damit Ihnen der Koalitionskompromiss nicht um die Ohren fliegt, sitzen Sie mit dem dicken Hintern der großen Koalition auf dem vereinbarten Paket der Föderalismusreform (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) anstatt endlich das zu machen, was in den Ländern – zum Teil auch von der SPD – als Notwendigkeit erkannt wird, nämlich das Bildungssystem der Zukunft gemeinsam zu gestalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Ich frage: Frau Merkel, wo ist eigentlich der Wirtschaftsminister? (Zurufe von der FDP: Da ist er doch!)
– Er ist jetzt also da.

Wenn es darum geht, für Deutschland Innovationspolitik zu gestalten, dann kann ich nur sagen: Der Autismus, Herr Glos, mit dem Sie zweimal in der Woche eine Presseerklärung herausjagen, man solle den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen, ist keine wirtschaftspolitische Gestaltung für ein zukunftsfähiges Industrieland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Lieber Michael Glos, ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie sich beim Besteigen eines Hybridautos anlässlich eines Besuches in Japan den Kopf gestoßen hätten.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Üben!)

 

Nehmen Sie das als Wink Gottes.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

 

Der Herrgott, lieber Herr Glos, wollte Ihnen sagen, dass Sie sich einmal systematisch um Themen wie ökologische Modernisierung, nachhaltige Mobilität und eine neue Energiepolitik kümmern sollen; denn da liegt die industriepolitische Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So gottesfürchtig kenne ich die Grünen gar nicht!)

 

Frau Merkel, ich erhebe den Vorwurf, dass Sie sich vor der Beantwortung der Fragen, mit was wir in Zukunft unser Geld verdienen wollen, welche Visionen wir in der Industriepolitik und beim Aufbruch Deutschlands in eine neue Wirtschaftspolitik haben, und vor Ihrer Verantwortung für die Zukunft, die Sie an dieser Stelle haben, mit Ihren kleinen Trippelschritten aus dem Staub machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Wenn Herr Glos so weitermacht, werden Sie in der Wirtschaftspolitik keinen Blumentopf gewinnen. Herr Glos, Sie haben sich etwas vorschnell in die Tradition von Ludwig Erhard gestellt. Ludwig Erhard hatte eine klare Vorstellung von der Marktwirtschaft. Er wusste, dass man die Wirtschaft auf der einen Seite in Ruhe lassen muss, aber auf der anderen Seite einen echten Rahmen schaffen muss, der den Wettbewerb erst ermöglicht. Wo ist Ihr Engagement für mehr Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland? Was machen Sie zum Beispiel im Energiebereich? Vier große Energiekonzerne beherrschen den Markt und können die mittelständische Energiewirtschaft, die es bei uns schließlich auch gibt, mit den Durchleitungsgebühren richtig in die Knie zwingen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört, Herr Glos. Vor dieser Frage haben Sie sich gedrückt. Deswegen sind Sie kein guter Wirtschaftsminister.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN)

 

Wir müssen auch über den Haushalt reden, Frau Merkel. Dieser Haushaltsplanentwurf entspricht nicht der Gestaltung neuer Möglichkeiten – ich beziehe mich damit auf Ihre Regierungserklärung –; es ist vielmehr ein ziemlich bequemer Haushalt, weil er die Konsolidierung nicht an der Stelle in Angriff nimmt, an der sie beginnen müsste. Die Einnahmen brummen. Wir werden in Deutschland 6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro – die Angaben schwanken je nach Institut – zusätzlich einnehmen. Die Einnahmen brummen, aber was machen Sie? Statt sich um Zukunftsgestaltung, Gestaltung neuer Möglichkeiten und Freiheit für künftige Generationen zu bemühen, erhöhen Sie im Jahr 2006 in dem Moment, wo die Einnahmen brummen, die Verschuldung um weitere 7 Milliarden Euro. Gestern hat uns der Finanzminister erklärt, dies sei ein Jahr der Konjunkturunterstützung. Die Konjunktur, wie sie sich derzeit entwickelt, braucht keine Unterstützung in Form einer Neuverschuldung um 7 Milliarden Euro. Notwendig ist vielmehr eine Haushaltskonsolidierung, die Sie in diesem Jahr aber nicht angehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

 

Ich nenne Ihnen auch den Grund dafür. Es ist eine billige Nummer: Sie wollen im ersten Jahr der großen Koalition den schwierigen und unbequemen Weg der Haushaltskonsolidierung nicht einschlagen. Sie haben den Haushalt einer Honeymoon-Koalition vorgelegt; es ist kein Haushalt einer Koalition, die die Zukunft gestalten will.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es ist ganz einfach. Hans Eichel kam immer in Bedrängnis und Panik, wenn zu wenig Einnahmen erzielt wurden. Peer Steinbrück kommt in Panik, weil die Einnahmen plötzlich zu hoch sind. Anders ist doch die Hektik, mit der Sie die Mehrwertsteuererhöhung beschließen wollen, nicht zu erklären.
Sie betreiben in diesem Jahr eine schöne Honeymoon-Haushaltspolitik und verüben im nächsten Jahr mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte einen Anschlag auf die Konjunktur und die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Die Theorie, die der Finanzminister gestern erläutert hat – er ist leider gerade nicht anwesend –, hatte ein bisschen mit Voodoo zu tun. Sie handeln nach dem Motto „Jetzt so viel Anlauf nehmen, dass der Anschlag auf die Konjunktur im nächsten Jahr verdaut werden kann“. Frau Merkel, das ist so, als wenn Sie über das Wasser laufen und der Gefahr des Einsinkens dadurch begegnen wollten, dass Sie schneller Anlauf nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was Sie vorgelegt haben, ist wirtschaftlicher Unsinn. Es gibt eine Alternative, und zwar den Subventionsabbau. Alle Institute – das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das DIW und andere – rechnen Ihnen vor, dass Sie schon in diesem Jahr unter der Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bleiben könnten und auf einen solchen Anschlag auf die Konjunktur verzichten könnten. Unser Bundeshaushalt steckt noch voller Subventionen, die wir abbauen können. Wir werden Ihnen das in den Beratungen im Einzelnen zahlengenau vorrechnen. Ich möchte noch etwas zum Thema Entwicklungsfinanzierung sagen, Frau Merkel. Davor haben Sie sich völlig gedrückt. Sie haben sich in der Regierungserklärung dazu bekannt, dass die Bundesregierung ihr Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungsfinanzierung einzusetzen, bis 2015 erreichen will. Aber der Haushalt gibt keinerlei Aufschluss über die Frage, wie Sie das tun wollen. Sie haben keinen Umsetzungsplan und Sie haben die französische Initiative einer Flugticketbesteuerung, aus der das Vorhaben finanziert werden könnte – 13 Staaten haben dem Vorschlag zugestimmt –, durch Schweigen und Wegschauen nicht gerade positiv begleitet. Sie haben keine Antwort auf die entscheidende Frage, wie wir in Zukunft die Entwicklung finanzieren sollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen ohne düstere Prophetie – der düstere Prophet Oskar Lafontaine hält sich jetzt an Oswald Spengler mit seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“; ich würde sagen, das passt zu Ihnen, lieber Herr Lafontaine –:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Was wir an der Entwicklungsfinanzierung einer gerechten Weltordnung fehlen lassen, werden wir später teuer zu bezahlen haben. Deswegen ist es notwendig, unser Versprechen hinsichtlich der 0,7 Prozent endlich einzulösen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch zwei Punkte im Zusammenhang mit der Gesellschaftspolitik ansprechen, Frau Merkel. Denn ob eine Koalition groß ist oder nur faul und behäbig, zeigt sich auch daran, ob sie zentrale Probleme unserer Gesellschaft wahrnimmt, angeht und löst. Das Erste ist die Kinderpolitik. Davon wird erstaunlich viel geredet; aber es wird sehr wenig gemacht. Die Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Kindern ist in Deutschland im internationalen Maßstab nicht ausreichend gewährleistet. Wir sind an dieser Stelle ein Entwicklungsland. Der Hauptgrund ist, dass in Deutschland, vor allem in den süddeutschen Bundesländern, in Bayern und Baden-Württemberg, Plätze für Kinder unter drei Jahren in den Kinderkrippen fehlen. Ich rede nicht über die Qualität der Betreuung – darüber müssten wir eigentlich auch diskutieren –, sondern nur darüber, dass viele Mütter und Väter keine Betreuungsplätze für ihre unter dreijährigen Kinder finden. Mit dem Elterngeld – das ist durchaus ein diskutables Konzept, auch wenn es viel kostet – machen Sie aber den dritten bzw. den vierten Schritt vor dem ersten. Deswegen fordern wir vom Bündnis 90/Die Grünen Sie auf: Schaffen Sie zuerst eine ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahre! Wenn dann noch Geld übrig ist, können wir darüber reden, was noch Sinnvolles gemacht werden kann. Aber es darf nicht umgekehrt sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was hat denn eine junge Mutter davon, ein Jahr lang das von Ihnen geplante Elterngeld in Anspruch zu nehmen, wenn sie weiß, dass es anschließend schief geht, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihr Kind hat? Sie haben im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der Entwicklung bei den Kinderkrippen bis 2010 vorgesehen. Wer weiß schon, ob es, wenn Sie 2010 feststellen, dass die Situation bei den Kinderkrippen noch immer so mies ist wie heute, nicht wieder vier, fünf Jahre dauert, bis eine vernünftige Zahl an Betreuungsplätzen erreicht wird? Aus heutiger Perspektive bedeutet Ihre Ankündigung: Zehn Jahre werdet ihr auf jeden Fall noch warten, bis etwas Vernünftiges passiert. Sie sagen ständig, dass Sie in zehn Jahren im internationalen Vergleich überall auf Platz drei stehen wollen. Ich sage Ihnen angesichts Ihrer Politik aber: Sie werden auch in zehn Jahren bei der Kinderbetreuung auf dem letzten Platz stehen. Sie müssen dringend etwas ändern, wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Sie sich auf die Fahne geschrieben haben, tatsächlich gewährleisten wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten aufhören, den Streit über die Lösung des demografischen Problems, also die Tatsache, dass es in Deutschland zu wenige Kinder gibt, auf dem Rücken der jungen Frauen und Männer auszutragen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Wenn diese noch zehn Jahre die blöde Diskussion, die nach dem Muster verläuft, diejenigen, die heute 20 oder 25 sind, seien an der demografischen Entwicklung schuld, verfolgen müssen, dann werden sie noch weniger Kinder bekommen. Vielmehr sollte sich die Politik auf ihr Kerngeschäft besinnen, die Rahmenbedingungen für Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit sowie für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Alles andere werden dann die Menschen machen. Weiter sollten wir uns nicht einmischen. Aber den Druck müssen wir herausnehmen. Sonst sagen die jungen Leute: Von euch lassen wir uns das nicht mehr vorhalten!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Integration und Einwanderung sagen. Frau Merkel, Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung und in vielen anderen öffentlichen Äußerungen zur Integration bekannt. Aber das wird durch Ihre Haushaltspolitik nicht bestätigt; denn Sie haben die Mittel für Integrationskurse um 67 Millionen Euro gekürzt. Das sind 32 Prozent des betreffenden Gesamtetats. Sie bekennen sich zwar in Sonntagsreden zur Integration. Aber dort, wo es um Sprachkurse und Landeskunde geht, kürzen Sie rabiat. Ich halte das für nicht verantwortbar.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau Böhmer wird sicherlich sagen, dass 2005 nicht alle Mittel abgerufen worden seien und dass daher die Kürzungen gerechtfertigt seien. Aber es ist logisch, dass wir zunehmend mehr Sprachkurse in Deutschland brauchen. Diese Kurse sind ein Renner. Wenn Sie nachgedacht hätten, dann wäre Ihnen bestimmt eingefallen, wie Sie die nun gestrichenen Mittel hätten vernünftig einsetzen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stattdessen nerven Sie die Menschen mit albernen Einbürgerungstests. Sie sollten sich einmal die Parallelität vor Augen führen. Auf der einen Seite werden die Mittel für Integration gekürzt. Auf der anderen Seite ist das, was von Baden-Württemberg vorgeschlagen wurde, nichts anderes als ein Idiotentest.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Den von Hessen vorgeschlagenen Einbürgerungstest hätte selbst die Hälfte der Deutschen nicht bestanden. Deutschland würde wirklich aussterben, wenn wir die Einwanderung mit solchen Tests regelten. Frau Merkel – ich sage das in erster Linie an die Adresse der Union –, Sie haben noch immer ein ideologisches Problem. Wir sind faktisch ein Einwanderungsland und sind in wirtschaftlicher Hinsicht sogar auf Einwanderung angewiesen. Es gibt keine innovative Ökonomie, die nicht systematisch Einwanderung zulässt. Schauen Sie doch auf die USA oder nach Großbritannien! Aber Sie wollen es nicht. Sie haben nicht begriffen, dass wir hier einen Sprung nach vorn machen müssen,
zum Beispiel bei der konsequenten Anwendung des Einwanderungsgesetzes. Ich wünsche mir, dass Sie da mehr tun. Zeigen Sie mir ein Land in Europa oder auf der Welt, das systematisch hoch ausgebildete junge Schüler und Schülerinnen oder Studenten und Studentinnen, die Besten, abschiebt wie zum Beispiel die junge Kurdin, die beim Bundespräsidenten eingeladen war und vier Wochen später abgeschoben werden sollte, und das nur aus Dogmatismus, nur weil wir nicht in der Lage sind, eine vernünftige Einwanderung solcher Menschen in Deutschland zu realisieren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau Merkel, wir können uns das, was Sie da – ich behaupte: aus ideologischer Verblendung – veranstalten, weder gesellschaftlich noch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten und schon gar nicht unter Wirtschaftsgesichtspunkten leisten, weil wir gut ausgebildete Leute in unserem Land brauchen. Deswegen fordere Sie auf, Ihr ideologisches Konzept zu überdenken; sonst werden Sie Deutschland nicht zu einem Land der Möglichkeiten und der neuen Freiheiten machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss. Wenn ich sehe, was Sie bisher auf den Tisch gelegt haben, dann bekomme ich nicht den Eindruck, dass Ihre Koalition groß ist. Sie ist eher breit. Sie arbeitet nach dem Mechanismus „Von diesem ein bisschen, von jenem ein bisschen“, aber vermeidet klare Strukturreformen. Dabei haben wir alle zusammen in den letzten Jahren gelernt, dass es auf strukturelle Reformen ankommt und dass es nicht damit getan ist, lediglich hier und dort ein bisschen zu verändern.  Deswegen sage ich: Wenn Sie diese Politik nicht ändern, werden Sie bei der ökologischen Modernisierung nichts erreichen und auch bei den Innovationen nicht. Sie werden nicht in sozial gerechter Weise mehr Freiheit für alle bewirken und vor allem werden Sie keine nachhaltige Politik im Interesse künftiger Generationen realisieren. Dieser Haushalt wäre eine Chance, zu springen. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen der nächsten Monate wenigstens an der einen oder anderen Stelle ein Stück vorankommen.

Vielen Dank.
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 


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